Eines der "Standbeine" meiner Kindheit war die Musik. Musik als Medium das berührt, anregt, beschwingt, beruhigt, Gefühle auslöst.
Den wohl ersten, bewusst wahrgenommenen Zugang zu Musik hatte ich im Vorschulalter mit dem Eintritt in den Kinderchor Roggwil. Der Kontakt zur Klassischen Chormusik, nicht nur als Zuhörer, sondern als aktiver Sänger, in einem Alter das ohnehin von Entdeckungen und Neugier geprägt ist, eröffnete mir eine Welt, die massgeblich zur Fundamentbildung beigetragen hat. Musik kann Bilder verstärken, dramatisieren, Spannung erzeugen, Gänsehaut auslösen, ja sogar Angst einflössen. Musik kann aber ebenso Fröhlichkeit vermitteln, Identität stiften, Erinnerungen wecken, kurz alle Sinne ansprechen. Musik verbindet, Musik verändert, Musik baut auf.
Klassische Musik in einem Kinderchor, unter einem Leiter der jede Musik ausserhalb der geistigen Musik als Teufelswerk betrachtete, hielt mich nicht davon ab, auch von andern Musikrichtungen in Bann gezogen zu werden. Die Musik der schwarzen Bevölkerung in Amerika wurde von den amerikanischen Soldaten nach Europa gebracht. African-American Spiritual wie die Musik der schwarzen Bevölkerung Amerikas heute bezeichnet wird, waren die Wurzeln des Gospels, die als christlich afroamerikanische Stilrichtung auch in der Schweiz zunehmend wahrgenommen, am Radio gespielt und in der Kirche Eingang fand.
> Link African - American Spiritual
> Link Louis Armstrong & Mahalja Jackson - Just A Closer Walk With Thee auf YouTube
Ob Gospel, Jazz, Blues, die Stilrichtungen waren für mich kaum zu trennen. Mich faszinierten vor allem die Stimmen, die Intensität des Ausdrucks, die Leidenschaft des Gesangs, die Wehmütigkeit des Blues, die Authentizität der Musik, die Begleitbilder die mir zu dieser Musik durch den Kopf gingen.
Zwei vordergründig verschiedene Musikwelten begleiteten mich so durch die Schulzeit. Im Chor die Klassische Chormusik und daneben zunehmend die Schwarze Musik aus Amerika.
Über Jahre hatten wir Zuhause Untermieter. Bei uns logierten meistens junge Lehrer oder Lehrerinnen. Zum Beispiel ein Fräulein aus dem Emmental oder ein Fräulein aus dem Wallis.. Nicht vergessen habe ich die Geschichte, dass die Mutter des Walliser Fräuleins auch für ihr 10. Kind eine lange Wallfahrtswanderung unter die Füsse genommen hat. Erinnern kann ich mich auch an einen Junglehrer, der aus einer Neutäuferfamilie aus dem Jura entstammend, den Lehrerberuf dann aufgab und Prediger wurde.
Einer der Wochenaufenthalter war ein anderer Junglehrer aus Bern. Der junge Mann war als Handballtorhüter des BSV Bern nicht nur Spitzensportler, sondern offensichtlich auch ein Jazz-Begeisterter. Sein Zimmer lag Wand an Wand mit meinem Zimmer. Zum Erstaunen meiner Mutter korrigierte der Lehrer die schriftlichen Arbeiten seiner Schüler jeweils mit untermalender Jazz-Musik. Das konnte sie fast nicht fassen. Jazz und Aufgabenkorrektur? Ist das ein seriöses Paar?
Eine Platte lief auffallend viel, so auch an einem Samstagmittag. Als mein Zimmernachbar sich dann auf seiner Vespa Richtung Bern ins Wochenende verabschiedete, nahm ich die Gelegenheit wahr, mal einen scheuen Blick in sein Zimmer, insbesondere auf den Plattenspieler zu werfen. Sonny Rollins hiess der Musiker mit dem freundlichen Lächeln auf der danebenliegenden Plattenhülle!
Die Musik von Sonny Rollins war quasi mein erster Kontakt zum Instrumental-Jazz. Die Musikrichtung faszinierte mich einerseits als etwas Neues, mir Unbekanntes und anderseits kam diese Stilrichtung bei mir trotzdem nicht richtig an. Der Funkensprung blieb aus, aber meine allgemeine Neugier war geweckt.
Mein erster, heiss ersehnter Plattenspieler am Ende der Schulzeit, war der Start zu einer eigenen kleinen Plattensammlung. Die Auswahl im Plattenladen in Langenthal war aber äusserst bescheiden, resp. entsprach einfach nicht meinen Wünschen.
Radio Luxemburg war der damalige Geheimtipp. Ein paar Singles von Papa Bue's Viking Jazz Band am Ende der 50-er Jahre war dann meine erste Anschaffung. Dazu natürlich die erste LP mit Mahalja Jackson. Diese Platte hat vermutlich den Boden geebnet, der meine später entdeckte Faszination und Liebe zu Rhythm and Blues begründete.
> Link Papa Bue's Viking Jazz Band - Schlafe mein Prinzchen schlaf..
Mit dem Beginn der 60-er Jahre kam das Ende meiner Zeit in der Volksschule und gleichzeitig war es der Beginn einer musikalischen Revolution in Europa. Die Beatles starteten von Hamburg aus zur Eroberung der Jugend rund um den Erdball. Und ich war mit dabei, ein Teil dieser einmaligen und unglaublichen Geschichte.
Jede neue Single oder LP der Beatles wurde mit Spannung erwartet, jedes Stück von den Hobby-Bands meiner Ausgangs-Region sofort ins Repertoir aufgenommen.
In den Wohnstuben hatte inzwischen ein neuartiges Möbelstück den besten Platz eingenommen. Schwarz-weiss Fernsehen war die neue, sich epidemisch ausbreitende Lieblingsbeschäftigung vieler Schweizer Familien. Ob Skirennen oder Samstag-Unterhaltungs-Quiz, man war dabei. Die Bilder kreischender und z.T. in Ohnmacht fallender Mädchen bei jedem Auftritt der Beatles teilten dann die Fernsehgesellschaft der Schweiz in zwei Lager. Das Thema "Langhaarige" beschäftigte die Armee, die Schulmeister, die Badmeister, die Lehrmeister, eigentlich alle Meister, die meisterhaft wussten was sich gehörte. Meine schon damals schüttere Haarpracht liess allerdings keine Verwechslung zu.
Meine Vorliebe für Rhythm and Blues teilte ich mit einem Jugendfreund. Während in unserer Jugendclique keine Einigkeit herrschte, ob jetzt die Beatles oder die Stones die coolere Band wären, hörten wir beide stundenlang Rhythm and Blues. Für mich war und ist sie auch heute noch eine der faszinierendsten und tiefgründigsten Musikrichtungen und jedes Stück weckt Erinnerungen, lässt Bilder aufleben. Die weltweite Ehrerbietung gegenüber der im August 2018 verstorbenen Aretha Franklin zeigte, dass ich meine Bewunderung für diese charismatische Frau mit vielen andern Menschen teile. Aretha Franklin und Otis Redding waren in den 60-er Jahren meine Musik, Musik die in mir die tiefsten Gefühle wecken konnte.
> Link Aretha Franklin YouTube