Der Hype war gross, als am 18. November die erste Meldung über Swiss Bird Alert hereinkam. Ein Schachwürger, noch nicht ganz sicher bestätigt, sei bei Grandson am Neuenburgersee entdeckt worden. Für Ranking-Freaks war das vermutlich wie ein Alarm bei der Berufsfeuerwehr. Einzig auf Blaulicht mussten sie verzichten. Eine Stunde später kam die Bestätigung und die ersten Fotos; es handelte sich tatsächlich um einen Schachwürger Lanius s. erythronotus, einem Vogel der in ganz Asien seine Verbreitung findet.
Ich beteilige mich an keinem Ranking, aber ab und zu interessiert mich ein gemeldeter Vogel aus andern Gründen. Meinen ersten Schachwürger habe ich 2004 in Goa Indien gesehen und damals noch mittels Digiscoping durch das Fernrohr fotografiert. Wenn ein solcher Irrgast in Europa auftaucht, fragt man sich unweigerlich, von wo und auf welchem Weg der Vogel wohl hergekommen sei.
Als am Montag, 19. November auf dem iPhone die Meldung aufleuchtete, dass der Vogel noch immer anwesend sei, prüfte ich mal die ÖV-Verbindung Thun - Grandson / Corcelettes und die Wetter-App. Na ja, hin und zurück 5 Stunden Zug- und Busfahrt. Will ich das? Schachwürger in Indien, Schachwürger in der Schweiz? Fünf Stunden Zug- und Busfahrt? Das an einem nasskalten Tag mit leichtem Schneefall? Mit schlechten Fotobedingungen bezüglich Licht? Ich machte trotzdem mal "unverbindlich" meine Ausrüstung bereit und koppelte meinen Entschluss zum Start mit der nächsten Bestätigung, dass der Vogel noch immer da war. Gut, diese kam dann auch prompt und erlöste mich von meinen Zweifeln. Und überhaupt, ich hatte ja ein SBB GA, ein sachlich "überzeugender" Grund nach Grandson zu fahren.
Thun - Bern - Neuenburg - Yverdon - Corcelettes und zu Fuss die letzten paar 100m bis zum Beobachtungsort. Logisch und voraussehbar; ich war nicht allein. Das hatte den Vorteil, dass ich den Vogel auch nicht lange suchen musste. Fernglas auspacken und einfach mal in die gleiche Richtung wie die Kolleginnen und Kollegen neben mir in den Wald hinein spotten. Und da war er. Mal ruhig sitzend, dann wieder kurz den Standort wechselnd, mal kürzer mal länger am gleichen Ort, hielt er die ganze Orni- und Fotografenschar auf Trab. Eine witzige Situation, die Dutzendschaft von Ornis, zurückgehalten von einer unsichtbaren Grenze und der kleine Vogel als Beobachtungs- und Fotoobjekt. Outdoor-Voliere ohne Glas und Maschenzaun. :-)
Okay, ich wollte ja wenn möglich mit ein paar Fotos nach Hause reisen. Das hiess Stativ bereit machen, Kamera und Objektiv auspacken, Sonnenlichtblende montieren, auch wenn weit und breit keine Sonne zu sehen und zu erwarten war. Jetzt kam der schwierigste Teil. Wo könnte der beste Platz zum Fotografieren sein? Wo gab es Lücken im Geäst, die den Vogel schön freistellen würden? Wo hält sich der Vogel oft auf? Und wo war denn überhaupt ein Standplätzchen frei? Ich wartete auf den Moment, um einen Abgang sofort auszufüllen. Jetzt oder nie! Die Stativbeine kreutzten sich zwar wie die Zeltschnüre auf einem Zeltplatz in Rimini in der Hochsaison. Aber man ging pfleglich miteinander um, niemand wollte die Fotosession stören.
Die ersten Probefotos, einfach mal in den Wald hinein, zeigten schnell, dass die Lichtverhältnisse, wie vermutet, schlecht waren. Die Wahl bestand zwischen (zu) hohen ISO-Zahlen mit Rauschen oder (zu) langen Verschlusszeiten mit Verwackeln. Ich entschied mich für längere Verschlusszeiten. Das heisst, ich wählte Verschlusszeiten bis zu 1/25 Sekunde, in der Hoffnung, dass die auf Serie eingestellte Bildrate mit gütiger Hilfe des Stabilisators mir doch ein paar wenige, aber brauchbare Aufnahmen liefern würde. Es waren sehr wenige!